Der Gekreuzigte an der künstlichen Lunge

Heute ist Karfreitag und wir Christen blicken auf das Kreuz. Genauer: Auf den Schmerzensmann, auf Jesus, der unsägliches Leid über sich ergehen lassen musste. Und wir wissen: Nicht die Nägel, sondern die Liebe hielt Ihn am Kreuz. Warum sollte man sich dann ausgerechnet dieses gruselige Bild der Kreuzigung Jesu vom Isenheimer Altar genauer anschauen? Man könnte doch meinen, der Maler wollte jedes noch so blutige Detail der Kreuzigung Jesu übertrieben brutal darstellen. Das ist doch des Guten etwas viel. Doch soviel sei verraten: Darum geht es nicht. Jedenfalls hat diese besondere Darstellung einen anderen Grund, der in gewisser Weise auch etwas mit Corona zu tun hat. Es geht um Corona? Auch. Und Hoffnung in Verbindung mit diesem Kunstwerk. Aber lest selbst.

Ein Kabarettist sagte kürzlich sinngemäß:

Ich hätte nie gedacht einmal an einer Pandemie teilzunehmen.

Ich auch nicht. Die Wortwahl ist irgendwie unzutreffend passend: „teilnehmen“. Wie das Teilnehmen an einer Lotterie. Hier nur unfreiwillig, ganz ohne Loskauf. Man muss den Tatsachen ins Auge blicken: Ich nehme teil. Du auch. „Teilnehmer“ sind wir jetzt alle und sitzen in diesem Boot und segeln durch die Zeit, hoffend, dass es uns nicht erwischt (oder gar nochmal erwischt). Und die Nachrichten des unsäglich einsamen Leidens in Altersheimen und auf den COVID-Intensivstationen unserer Krankenhäuser sind beunruhigend. Bilder vom Abtransport unzähliger Särge, Erzählungen von hastig durchgeführten Beerdigungen und Abschiede in kleinsten Kreisen gehen uns an die Nieren. Und auch deshalb ist ein Blick auf den Isenheimer Altar von Bedeutung.

Ich gebe es zu: Es gibt sehr berühmte Gemälde zu denen ich lange keinen rechten Bezug herstellen konnte. Zweifelsfrei sind es Bilder, die offenbar von großen Künstlern ihrer Zeit gemalt wurden. So erging es mir lange auch mit Matthias Grünewalds Gemälden auf dem Isenheimer Altar.

Dieses weltbekannte Kunstwert, das mitten im Übergang des ausgehenden Spätmittelalters (1490) und der frühen Neuzeit (1512 – 16) entstanden ist, zeigt zentral eine Kreuzigungsszene, die mir immerzu „etwas drüber hinaus“ erschien: Ein Kreuz, das sich unter der Last des Herrn verbiegt, eine überdimensionierte Dornenkrone, stark verkrampfte Hände mit gespreizten Fingern, ein merkwürdig gefärbter Körper, übersät mit unzähligen roten Wunden und weitere grausige Details unsäglichen Leidens.

Links neben dem Gekreuzigten befinden sich Maria, die Mutter Jesu mit Johannes und Maria Magdalena, die Zeugen dieses schrecklich brutalen Ereignisses werden und bitterlich weinen. Rechts, mit dem Lamm Gottes zu Füßen, ist Johannes der Täufer dargestellt, der mit seinem ausgezehrten Zeigefinger auf Christus verweist.

Der Schlüssel zum Bild: Das Antoniusfeuer

Was ich nicht wusste: Zur Zeit der Entstehung des Altars gab es eine weit verbreitete „Seuche“, das sogenannte Antoniusfeuer. Wer daran erkrankte konnte sich wenig Hoffnung machen, denn es gab kein Heilmittel gegen diese qualvolle Erkrankung.

Heute wissen wir, dass es sich um einen Pilz handelt, der den Körper mit schrecklichen Folgen vergiftete (Mutterkornvergiftung). Wenn wir uns die Symptome ansehen, können wir bereits erahnen, worin die Verbindung zum Isenheimer Altar besteht: Starkes Kribbeln und brennende Schmerzen, andauernde Krämpfe und Verkrampfungen, starker Durst und Wahnvorstellungen („Kribbelkrankheit“), auch die Verengung der Blutgefäße, die Störung der Blutzirkulation, unzählige rote Striemen, die wie brennendes Feuer auf der Haut brannten, toxische Nekrosen und das Abfallen von Gliedmaßen in der Folge („Brandseuche“) waren die gefürchteten Begleiterscheinungen. Vielen Erkrankten mussten die Arme oder die Beine amputiert werden.

Das Kloster in Isenheim gehörte zum Spitalorden der Antoniter (Fratres hospitales sancti Antonii). Die Antoniter verschrieben sich der Krankenpflege und der medizinischen Versorgung und kümmerten sich daher auch insbesondere um jene armen Seelen, die zu jener Zeit verbreitet am Antoniusfeuer litten. Das waren viele. Der Isenheimer Altar mit seiner Passionsdarstellung war für die Kirche des Spitals bestimmt. Die Erkrankten wurden absichtlich vor den Altar geführt oder dort gelagert, weil dessen Betrachtung Linderung oder gar Heilung für die Patienten bringen sollte.

Grünewald wusste also bei der Anfertigung des Gemäldes, dass unzählige Betrachter des Altars oft an genau diesen schrecklichen Symptomen leiden würden, die Christus hier nun selbst am Kreuz sichtbar mitträgt und somit die unsäglichen Leiden dieser Krankheit mit der erlösenden Kraft seiner Passion vereint.

Indem Grünewald den Gekreuzigten mit den roten Striemen und den Verkrampfungen des Antoniusfeuers darstellt, verbinden sich für den Betrachter die Wunden Christi mit den deutlichen Zeichen der Brandseuche. Erkrankte können sich selbst in der Passionsgeschichte erkennen, sich ganz mit Christus identifizieren und ihr Leid mit Ihm, der ihre Krankheit bereits getragen hat, aufopfern.

Und sogar bei der Beweinung Christi unter dem Hauptbild soll der Betrachter Kraft aus einem Umstand ziehen, der theologisch sogar explizit NICHT stattgefunden hat: Christus wurden die Beine am Kreuz nicht gebrochen.

Denn das ist geschehen, damit sich das Schriftwort erfüllte: Man soll an ihm kein Gebein zerbrechen. Und ein anderes Schriftwort sagt: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben.

Johannes 19,36-37

Durch die Teilung des Bildes nimmt Gründewald das Leid der Betrachter dennoch mit in den Fokus: Der Gekreuzigte, dem kein Bein gebrochen wurde, wird sehrwohl mit unversehrten Beinen dargestellt. Dennoch erinnert das Arrangement der beiden Teilbilder, mit der Nahtstelle über den Beinen des vom Kreuz abgenommenen Christus daran, dass der Heiland durch sein unermessliches Leiden auch die Amputationen der Betrachter mit durchlitten hat. Auch die bereits Amputierten sollen aus dieser Betrachtung neue Kraft schöpfen können.

Ist das nicht wunderbar? Grünewald hat sich ganz und gar in die Leidensgeschichte unseres Herrn hineinversetzt. Und er hat sich zudem ganz und gar in die Situation der Betrachter in der Spitalkirche hineinversetzt. Indem er die Passion Christi und das zeitgenössische Leid durch das Antoniusfeuer miteinander verbindet, konnte Christus bildlich unmittelbar in die Situation der todkranken Menschen hineinsprechen, sie mit Hoffnung und Trost versorgen.

Was kann das für uns heute bedeuten?

Zur Zeit der Entstehung des Isenheimer Altars hatten viele Menschen zumindest eines gemeinsam: Sie hatten schlicht das Pech in jener Epoche zu leben, in der das Antoniusfeuer eine allgemeine Bedrohung für das Leben darstellte.

Und heute?

Heute nehmen wir an einer Pandemie teil. Wir leben in einer Zeit, in der Corona eine allgemeine Bedrohung für unser Leben darstellt, zumal wir alle über kurz oder lang in die Risikogruppe reifen. Das, was uns alle heute auf eine bestimmte Weise verbindet ist diese Pandemie. Es geht uns gar nicht so anders, als jenen Menschen damals. Und auch wir realisieren: Es kann uns jederzeit kalt erwischen. Ehe wir uns versehen befinden wir uns womöglich in einer ähnlich häßlichen Lage wie die Zielgruppe des Isenheimer Altars. Auf jeden Fall benötigen auch wir Kraft und neue Hoffnung in dieser Zeit.

Steckst Du gar Corona positiv in häuslicher Quarantäne und fühlst Dich verunsichert hinsichtlich des weiteren Verlaufs? Vielleicht hoffst Du, dass das Krankenhaus nicht nötig werden wird, fragst Dich, warum sich das Gesundheitsamt nicht längst zurückgemeldet hat. Oder Du fühlst Dich einsam und der Situation irgendwie hilflos ausgeliefert, harrst der Dinge, die kommen mögen, wartest endlich auf einen Impftermin.

Manch ein Patient liegt mit (oder auch ohne) Corona im Krankenhaus, fühlt sich furchtbar einsam, leidet an schwerer Atemnot und hofft inständig, dass sich alles möglichst bald doch wieder bessert. Im schlimmsten Fall hast Du große Angst, liegst im Krankenhaus abgeschottet von jeglicher Bezugsperson und Seelsorge, in der alleinigen Hoffnung dem schweren Verlauf von der Schippe zu springen und Deine Liebsten schnell wiederzusehen.

Vielleicht muss sich mancher von uns auch an den letzten Strohhalm klammern und hat die Prozedur der Ungewissheit vor sich: das Anschließen an die künstliche Lunge (ECMO). Für die Patienten, die es noch können, bedeutet das in aller Schnelle telefonisch Abschied nehmen zu müssen. Man weiss nicht, ob man wieder aufwachen oder eben sediert an Corona sterben wird.

Oder Du bist gar als Priester oder Krankenhausseelsorger unerschrocken genug den armen Seelen beizustehen, wenn Du überhaupt zu den Corona-Patienten vorgelassen wirst. Dann gehörst Du für mich neben Ärzten, Pflegekräften und vielen anderen auch zu den stillen Helden der Pandemie und trägst womöglich Schicksale unzähliger Patienten in Deinem Herzen.

Woraus schöpfen wir in solchen Situationen unsere Kraft und neue Hoffnung?

Am heutigen Karfreitag und mit Blick auf den Isenheimer Altar heißt das, dass ich es gar nicht mehr abwegig oder gar ketzerisch finde mir Christus bildlich bäuchlings auf einem Krankenbett, verzweifelt nach Luft schnappend oder mit den Schläuchen der künstlichen Lunge vorzustellen.

Möge der gekreuzigte Christus uns allen nahe sein in dieser Zeit. Ob zu Hause, im Altersheim, im Krankenhaus oder wo immer uns die Pandemie zu einer Schicksalsgemeinschaft verbindet, die sich Christus auch an der künstlichen Lunge vorstellen darf.

* Links auf externe Webseiten:
1) Berliner Zeitung: https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/charite-psychiater-die-corona-krise-verursacht-psychosoziale-narben-li.110859
2) US Studie: https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2770146 3) Internationale COH-FIT Studie: https://www.coh-fit.com/?lang=de
4) Wikipedia (Isenheimer Altar): https://de.wikipedia.org/wiki/Isenheimer_Altar

Bildnachweis:
Kreuzigung Christi (Detail/Ausschnitt): Isenheimer Altar, ehemals Hauptaltar des Antoniterklosters in Isenheim/Elsaß, Werktagsseite, Mittelbild: Kreuzigung Christi; Mathias Grünewald, Public domain, via Wikimedia Commons
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mathis_Gothart_Grünewald_023.jpg

Licensed-PD-Art | 1=PD-old | 2=cc-byThe Isenheim Altarpiece: Mathias Grünewald, Public domain, via Wikimedia Commons